Mir fehlt ein warmes Wir

Mir fehlt ein warmes Wir

»Mir fehlt ein warmes Wir«, SZ-Magazin 23/2022

Selten habe ich in der Süddeutschen einen so unausgewogenen, moralinsauren Artikel gelesen wie den Beitrag mit dem Titel „Mir fehlt ein warmes Wir“ von Frau Forudastan und Frau Ramadan im Heft 23/2022 des SZ-Magazins. Ich empfinde ihn als vollkommen ungerecht gegenüber einem Land, in dem die meisten Deutschen, jedenfalls nach meinen Erfahrungen, keineswegs fremdenfeindlich sind. Liest man den Artikel, bekommt man den Eindruck, dass die Autorinnen den Wunsch haben, Deutschland in ein Musterland für Asylanten verwandeln zu wollen. Und das muss ausgerechnet ich schreiben, wo ich doch den Familiennamen Steppan trage. Dazu muss ich die Geschichte erzählen, die mir einfiel, als ich Frau Ramadans Auseinandersetzung mit der Immobilienmaklerin las:

Als ich als Redakteur der Computerzeitung „mc“ des Franzis-Verlags in München anfing, suchte ich lange nach einer Wohnung. Es war ziemlich hoffnungslos, denn als Berufsanfänger konnte ich mir keine der leicht verfügbaren, aber hochpreisigen Münchener Wohnungen leisten. Mein Bruder, damals übrigens auch Redakteur, aber bei der Süddeutschen, half mir bei der Wohnungssuche. Endlich fanden wir etwas Bezahlbares, und haben bei der Münchener Vermieterin einen Termin zur Wohnungsbesichtigung vereinbart. Bei der Besichtigung fragte mich die Vermieterin auf bayrisch: „Herr Steppan, sagen’s a mal, wo kommt denn ihr Familienname her?“ Bevor ich reagieren konnte, antwortete mein Bruder für mich: „Aus dem Tschechischen“ und erklärte kurz die Vertreibung der Familien meiner Eltern nach dem 2. Weltkrieg aus Böhmen beziehungsweise aus dem Erzgebirge. Die Geburtsorte liegen beide im heutigen Tschechien.

Ich war zunächst sprachlos über die Reaktion der Vermieterin: „Mein Gott, ich komme immer an solche Leute! Neulich hat sich jemand aus Quickborn bei mir um die Wohnung beworben.“ Quickborn, für alle, die dieses Kleinod im Norden unverständlicherweise nicht kennen, ist eine 20.000-Seelen-Gemeinde in Schleswig-Holstein, an der nordwestlichen Stadtgrenze des Hamburger Stadtteils Norderstedt. Für die bayerische Vermieterin war das vermutlich schon Skandinavien – also Achtung, Nordmänner! Kein Wunder, dass sie so entsetzt war, wenn nach den Wikingern jetzt auch noch die kommunistischen Tschechen versuchten, in ihre schöne Wohnung einzufallen. Habe ich mich durch diese – Verzeihung – dumme Gans, diskriminiert gefühlt? Nein. Ich lache noch heute über diese Geschichte und bin überaus froh, diese blöde Wohnung in dem hässlichen Münchener Hochhaus nicht bekommen zu haben (Vermieterin: „Ich habe noch einen Arzt und einen Professor als Interessenten …“). Stattdessen habe ich in meiner Münchener Zeit in dem wunderbaren Stadtteil Menterschwaige gewohnt, ganz nahe an dem herrlichen Biergarten und der schönen Isar.

Die Themen Vertreibung und Asyl erinnern mich wieder an die durchaus gemischten Erfahrungen meiner Eltern, denn nicht alle Vertriebene wurden damals in Westdeutschland mit offenen Armen empfangen. Soll man der damaligen Bevölkerung Westdeutschlands deswegen Fremdenfeindlichkeit unterstellen? Die einheimische Bevölkerung hatte angesichts der großen Flüchtlingsströme nach dem Krieg einfach Angst um ihre Existenz (Flucht und Vertreibung Deutscher aus Mittel- und Osteuropa 1945–1950). Die Leute sprachen nicht ihren Landesdialekt und hießen nicht Meier, Müller, Schulze, sondern Borowski, Nawesnik, Steppan. Ich muss übrigens auch heute noch meinen Familiennamen engelsgeduldig buchstabieren, damit er nicht falsch geschrieben wird, und fühle mich trotzdem nicht diskriminiert. Dabei verwende ich übrigens die in unserer Familie übliche österreichische Buchstabiertafel (ein Teil unserer Familie hat österreichische Wurzeln). Die meisten Deutschen kennen diese Tafel nicht und fragen ständig nach, wenn ich sage: „Siegfried, Theodor, Emil, Paula, Paula, Anton, Nordpol“.

Eine andere Geschichte, die mir beim Lesen dieses SZ-Artikels wieder einfiel: Ich trinke sehr gerne türkischen Mokka. Als ich vor vielen Jahren als junger Mann in einen kleinen türkischen Laden in Lübeck gegangen bin, um mich nach einer bestimmten, besonders fein gemahlenen Marke eines Mokkas zu erkundigen, bin ich dort ziemlich blöd behandelt worden. Damals war ich sauer, heute verstehe ich das. In diesen Laden kamen fast nur Türken, und man hat einem Deutschen einfach nicht zugetraut, sich mit türkischen Mokka auszukennen. Das war also gar nicht fremdenfeindlich gemeint, als mich ein alter Türke belehrte als ich mich über die Minipackungen einer bestimmten Sorte beklagte und sagte: „Jungchen, von dem Kaffee darfst du nicht viel trinken“. Ich blieb hartnäckig bei dieser Sorte, und mit der Zeit haben sich die türkischen Ladeninhaber daran gewöhnt, dass der seltsame Deutsche ab und an vorbeikam. Vorurteile sind meistens ein Zeichen mangelnder Erfahrung mit Menschen anderer Herkunft.

Wenn Frau Forudastan schreibt, dass sie sinngemäß nicht versteht, wenn sich ein ihr im ICE gegenüber sitzendes Paar angesichts der Flüchtlingspolitik „fremd im eigenen Land“ fühlt, kann ich förmlich explodieren. Sie verpasst sehenden Auges eine einmalige Chance zu zeigen, wie Leute wirklich sind, die aus anderen Ländern stammen. Warum verwickelt sie die Leute nicht in ein Gespräch, statt aus purem Trotz Farsi zu sprechen? Vielleicht hätte Frau Forudastan ihre Frankfurter Rundschau besser lesen sollen, damit sie weiß, wie entspannt man mit solchen Situationen umgehen kann. Von „Bastian“ konnte man in einer Ausgabe der Rundschau lesen: „Neulich in der Straßenbahn unterhalten sich zwei junge Männer auf Türkisch. Sagt eine ältere deutsche Frau: ‚Redet Deutsch!‘. Darauf einer der Türken: ‚Isch babbel, wie’s mir gefällt.‘“

Zu Frau Forudastans Nachbarn, der zögert, seine Kinder auf das Gymnasium um die Ecke zu schicken, möchte ich eine andere Geschichte erzählen: Ich hatte einmal eine indische Kollegin, mit der ich bei T-Systems in Darmstadt zusammengearbeitet habe. Als wir uns kennenlernten, diskutierten wir über die Verkehrsverbindungen zur Arbeit, denn wir wohnten beide nicht in Darmstadt. Ich fragte sie bei dieser Gelegenheit, wo sie wohne. Sie meinte, im Frankfurter Stadtteil Rödelheim. Da ich lange in Frankfurt gewohnt habe und diesen Stadtteil sehr schätzte, sagte ich: „Das ist ein schöner Stadtteil mit sehr vielen Altbauten.“ Sie schüttelte nur resignierend den Kopf und sagte zu mir: „Rödelheim ist nicht sehr schön, es wohnen dort sehr viele Ausländer.“ Von den insgesamt 758 574 Frankfurterinnen und Frankfurtern, die am 31. Dezember 2019 mit Hauptwohnung in der Stadt gemeldet waren, haben rund 30 Prozent nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie gehören wie meine indische Kollegin zu den 178 Nationen, die in Frankfurt leben. Ich habe meine indische Ex-Kollegin nie als fremdenfeindlich erlebt. Sie ist einfach ein ganz normaler Mensch, der Angst vor Fremden hat. Es ist schon traurig, dass ich das hier schreiben muss: Die Angst vor dem Fremden ist international.

Aber zurück zu dem Beitrag im SZ-Magazin. Frau Ramadans Kritik an der Zusammensetzung des Bundestags kann ich verstehen, solange sie sich nur über die 10,3 Prozent für die AfD aufregt. Aber was soll denn bitte ihr Hinweis über die wenigen Menschen mit „Migrationshintergrund“ im Bundestag? Hallo, schon einmal etwas von Demokratie und Wahlrecht gehört? Warum wählen denn so viele Leute hierzulande rechtsextrem? Sind die Leute doof? Und sind sie in Deutschland besonders blöd? Schauen wir uns mal um: Bei den französischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 schnitt Le Pen mit 41,6 Prozent im zweiten Wahlgang ab. Sind die französischen Wähler plötzlich rechtsextremer als die deutschen? Nein, ein Teil der Wähler dort reagiert nur auf eine ganze Reihe von Problemen in ihrem Staat. Frankreich hat zum Beispiel im europäischen Vergleich überdurchschnittlich viele Arbeitslose. Ich will den Ausgang der Wahl dadurch auf keinen Fall rechtfertigen. Aber die Fehler in einem Staat immer nur den Wählern anzulasten, greift auch zu kurz.

So geht es mir auch bei dem, was Frau Forudastan über die von Neonazis verübten Brandanschläge schreibt. Wenn Bundeskanzler Kohl nicht an der Trauerfeier für die Opfer von Mölln teilnahm, war das typisch für Kohl, aber nicht automatisch typisch für die, die ihn gewählt haben. Aufgrund eines Bundeskanzlers, der meiner Meinung nach unser Land in seiner langen Regierungszeit mehr schlecht als recht vertreten hat, auf die Einstellung der Deutschen zu Türken zu schließen und sich in diesem Land „fremd“ zu fühlen, ist mehr als ungerecht. Ich fühle mich dadurch persönlich beleidigt, denn ich habe damals selbstverständlich erwartet, dass der Bundeskanzler dieses Landes in einem solchen Fall zu der Trauerfeier fährt. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass meine Erwartungen damals sehr viele Leute in diesem Land ebenfalls teilten. Alles andere ist eine böse Unterstellung.

Wie sehr sich Deutschland gewandelt hat, zeigt eine Studie von Joel Waldfogel. Waldfogel hat die Restaurantdaten von 17 Nationen mit Hilfe von Euromonitor und Tripadvisor erhoben und kommt zum Ergebnis, dass Deutschland beim Anteil seiner Restaurants mit heimischer Küche im internationalen Vergleich auf dem letzten Platz liegt. Ist die deutsche Landesküche so grottenschlecht oder haben die Deutschen vielleicht viel weniger Vorurteile gegenüber anderen Kulturen als die Autorinnen des SZ-Artikels glauben? Die demografische Verteilung der Bevölkerung in Deutschland zeigt: Der Anteil zum Beispiel von Türkischstämmigen in Deutschland mit rund 3 Millionen wird nur noch von der Türkei übertroffen. Weiß man das, wundert es nicht, dass es so viele türkische Restaurants in Deutschland gibt. Und übrigens: Die Türkei hat im internationalen Vergleich der besagten Studie den zweithöchsten Anteil an Restaurants mit heimischer Küche im eigenen Land …

Ich finde, dass der Artikel im SZ-Magazin ein Zerrbild von uns Deutschen zeichnet. Für mich ist die Angst, die andere vor dem Fremden ganz allgemein haben, vollkommen nachvollziehbar. Die Ursache der Angst vor Fremden liegt oftmals in Vorurteilen, mangelnder Bildung und zu wenig Erfahrung mit Menschen anderer Herkunft. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen ihre Angst zu nehmen, statt sie wegen ihrer Angst zu verurteilen. Hierbei kann eine noch so gute Asylpolitik kein Ersatz sein, die Ursachen der Vertreibung vieler Menschen aus ihren eigentlichen Heimatländern zu bekämpfen. Aber egal wie diese Politik aussieht: Wir müssen entschieden gegen Fremdenfeindlichkeit, Fremdenhass und Rassismus vorgehen. Hier helfen solche Lamentos wie im SZ-Magazin meiner Meinung überhaupt nicht.